Gedichte „Sommer“, „Freiraum“ und „Eintauchen“

Gedichte „Sommer“, „Freiraum“ und „Eintauchen“ unter: www.autorenforum.de

Sommer

Barfuß gehen
auf Straßenpflaster
im Krebsgang die Scheren
noch nicht geöffnet zum Einritzen
verwobener Chiffren in
heißen Asphalt

(Sonja Viola Senghaus)

Freiraum

Augenblicke
einatmen
Fenster und Türen
weit offen
Wolkenschleier
abstreifen
eintauchen
in Alabasterblau
vom Sonnenlicht
durchflutet sein
nur über Schatten springen
gelingt heute nicht
aber ein Ausatmen

(Sonja Viola Senghaus)


Eintauchen

Tiefblau der See
in den ich eintauche
an heißen Sommertagen:
Energiequelle

(Sonja Viola Senghaus)

Gedicht „Annette“

Gedicht „Annette“ unter: www.droste-gesellschaft.de

Annette

von Droste-Hülshoff
zu jener Stunde als der Knabe
im Schneckenhaus auf siebenzackiger
Buche dahinschmolz verwandelte sich das
brodelnde Moor in klares Quellwasser

Die goldene Krone auf edlem
Haupt entstieg er nicht
dem Grachtenteich
der verzauberte
Königssohn

Doch die Seufzer
um des versäumten
Prinzenkusses willen
ließen über Nacht Millionen
von Seerosen erblühen

(Sonja Viola Senghaus)

Gedichte „Dramatisches Fragment“ und „Tableau noir“

Gedichte „Dramatisches Fragment“ und „Tableau noir“ unter: www.lyrik.at

Gedicht „Dramatisches Fragment“ unter: www.philo-forum.de

Dramatisches Fragment

Antwort auf Gottfried Benns „Nachtcafé“

In jener Nacht
als die Instrumente
sich in Menschen verwandelten
und aus ihrem gescheitelten Haar
Glaube Liebe Hoffnung in
verstopfte Ohren tropfte

In jener Nacht
als der Masse Mund
Chopin wie Perlen vor die Säue spie
und dabei das Lied auf die
Frauen das Leben und
die Liebe sang

In jener Nacht
versperr die Tür
bevor die Kannibalin
sich einnistet in deinem Bett
und die Nelke zu deiner
Lieblingsblume wird

(Sonja Viola Senghaus)

Nachtcafe

(Gottfried Benn, aus „Sämtliche Gedichte“, 1912)

824. Der Frauen Liebe und Leben.
Das Cello trinkt rasch mal. Die Flöte
rülpst tief drei Takte lang: das schöne Abendbrot.
Die Trommel liest den Kriminalroman zu Ende.

Grüne Zähne, Pickel im Gesicht
winkt einer Lidrandentzündung.

Fett im Haar
spricht zu offenem Mund mit Rachenmandel
Glaube Liebe Hoffnung um den Hals.
Junger Kropf ist Sattelnase gut.
Er bezahlt für sie drei Biere.

Bartflechte kauft Nelken,
Doppelkinn zu erweichen.
B-moll: die 35. Sonate.
Zwei Augen brüllen auf:
Spritzt nicht das Blut von Chopin in den Saal,
damit das Pack darauf rumlatscht!
Schluß! He, Gigi! –

Die Tür fließt hin: Ein Weib.
Wüste ausgedörrt. Kanaanit’isch braun.
Keusch. Höhlenreich. Ein Duft kommt mit.
Kaum Duft.
Es ist nur eine süße Vorwölbung der Luft
gegen mein Gehirn.

Eine Fettleibigkeit trippelt hinterher.

Tableau noir
(Ovids Traum)

Nachtschwere
in zarter Hand
Kreuzzeichen
kopfüber Hals
gesichtsloses Schwarz
auf Samt und Seide
der gepuderten Maske
entkommen
Gebeine erhellt
von Wolkenschaum
und Amor gefesselt
am Baum der Erkenntnis

(Sonja Viola Senghaus)